„Auch die Justiz muss sich um Verständlichkeit ihrer Entscheidungen bemühen“

„Auch die Justiz muss sich um Verständlichkeit ihrer Entscheidungen bemühen“

Interview mit BFH-Präsident Dr. Hans-Josef Thesling

Von Manfred F. Klar, LSWB-Präsident

Manfred F. Klar: Herr Dr. Thesling, Sie wurden am 25. Januar 2022 zum Präsidenten des Bundesfinanzhofs (BFH) ernannt. Konnten Sie sich seit Ihrer Berufung in München einleben?

Dr. Hans-Josef Thesling: Ich bin seit knapp einem halben Jahr im Amt. Durch die pandemiebedingten Einschränkungen war der Aktionsradius in der ersten Zeit eingeschränkt. Inzwischen ist das Leben für uns alle deutlich einfacher geworden. Ich habe die Schönheiten von Stadt und Umgebung mit vielen Aktivitäten und Ausflügen bereits kennen gelernt. Aber ich freue mich schon darauf, meine lange To-do-Liste aufzurufen, insbesondere im kulturellen Bereich.

Klar: Der BFH ist eine Institution in Deutschland. Er steht für Unabhängigkeit in der Finanzgerichtsbarkeit und zeigt dies auch immer wieder durch seine differenzierten Urteile. Wie stellen Sie diese Unabhängigkeit auch in Zukunft sicher?

Thesling: Die Unabhängigkeit der Gerichte ist ein hohes Gut und unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung des Rechtsstaats. Der BFH ist hier ein gewichtiger Baustein.

Nach meinem Eindruck ist die Unabhängigkeit der Finanzgerichtsbarkeit im Gerichtsalltag nicht infrage gestellt. Dennoch ist stete Wachsamkeit geboten. Andererseits ist nicht jede Kritik an Entscheidungen der Justiz gleich eine unzulässige Einflussnahme auf die Unabhängigkeit der Gerichte. Auch die Justiz muss sich um Verständlichkeit ihrer Entscheidungen bemühen und den neuen Formen öffentlicher Kommunikation Rechnung tragen.

Klar: Der deutsche Gesetzgeber scheint die Komplexität der Steuergesetze zu lieben. Wird man mit dem Wunsch nach Einzelfallgerechtigkeit und der Erfassung jeglicher möglichen rechtlichen Konstellation den Anforderungen an ein modernes Steuerrecht noch gerecht?

Thesling: Die Kritik an der Komplexität des deutschen Steuerrechts ist nach meinem Dafürhalten an vielen Stellen berechtigt. Das liegt sicherlich daran, dass das Steuerrecht häufig vom Gesetzgeber genutzt wird, um steuerfremde Ziele zu erreichen. Hier reichen die Anlässe für steuerrechtliche Regelungen z. B. von erhöhter Abschreibung zur Konjunkturstimulierung über die Förderung ökologischen Bauens bis zur Pendlerpauschale als Mittel zur Steigerung umweltfreundlicher Verkehre. Auch wenn diese Ziele sicher abstrakt legitim sind – dem einfachen, anwenderfreundlichen Steuerrecht bringen sie uns nicht näher. Zugleich spricht nichts dafür, dass sich dies in Zukunft ändert.

Das Streben nach Einzelfallgerechtigkeit und die damit einhergehende Erhöhung der Komplexität in der Anwendung der Steuergesetze spielt auch bei Entscheidungen der Finanzgerichtsbarkeit eine Rolle. Diesen Aspekt in der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, liegt in der Verantwortung jeder einzelnen Richterin und jedes einzelnen Richters.

Klar: Neben der Komplexität kommt der Europäischen Union eine zunehmend wichtige Rolle in der Steuerpolitik zu. Wie sehen Sie diese Entwicklung auch in Bezug auf die Konsequenzen für Ihr Haus?

Thesling: Es ist in der Tat so, dass die zunehmende europäische Integration besonders das Gebiet des europäischen Steuerrechts erfasst. Dadurch beeinflussen europarechtliche Regelungen in immer größerem Umfang Entscheidungen über steuerrechtliche Sachverhalte. Die Komplexität des Steuerrechts wird dadurch weiter gesteigert. Das schlägt sich konkret in der Arbeit des Bundesfinanzhofs nieder: Die Beurteilung der einschlägigen Verfahren wird anspruchsvoller und die Anzahl der Verfahren, in denen europarechtliche Fragen die Entscheidung beeinflussen, größer.

Klar: Die Bearbeitungszeiten der eingegangenen Fälle sind in letzter Zeit im BFH teils erheblich zurückgegangen. Woher kommt aus Ihrer Sicht diese Entwicklung?

Thesling: Die Bearbeitungszeiten der Verfahren beim Bundesfinanzhof sind seit mehreren Jahren konstant und liegen im Schnitt für alle Verfahren insgesamt bei neun Monaten, bei Revisionen als die steuerrechtlich bedeutsamen Entscheidungen bei 22 Monaten Laufzeit. Die Entwicklung der Bearbeitungszeiten wird maßgeblich beeinflusst durch den Umfang der Eingänge und die Komplexität der Materie. Bei den Eingängen ist ein kontinuierlicher Rückgang der Verfahren bereits bei den Finanzgerichten und in der Folge auch beim Bundesfinanzhof zu beobachten. Das ermöglicht dem Bundesfinanzhof den Abbau älterer Verfahren und so letztlich eine Beschleunigung der Bearbeitungszeiten. Auf der anderen Seite sind die an den BFH herangetragenen Verfahren tendenziell komplexer, unter anderem auch wegen der eben beschriebenen zunehmenden europarechtlichen Bezüge. Insgesamt haben verschiedene und auch gegenläufige Komponenten Einfluss auf die Entwicklung der Bearbeitungszeiten.

Klar: Auch in diesem Jahr wird der BFH richtungsweisende Urteile fällen. Können Sie uns einen Ausblick auf wichtige Entscheidungen geben?

Thesling: Auch wenn der Bundesfinanzhof pro Jahr über mehrere 100 Revisionen entscheidet, so finden doch immer wieder einzelne Verfahren aus unterschiedlichen Gründen besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Dies war zuletzt der Fall bei der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Rentenbesteuerung oder bei den so genannten cum ex-Verfahren.

In diesem Jahr steht insbesondere das Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit des reduzierten Solidaritätszuschlags im Mittelpunkt des Interesses der Öffentlichkeit. Aber auch die einkommensteuerrechtliche Behandlung der Gewinne aus dem Handel mit Kryptowährungen dürfte für eine größere Öffentlichkeit von Interesse sein. Bei Letzterem wird die Entscheidung allerdings nicht mehr in diesem Jahr erwartet. Daneben gibt es natürlich zahlreiche weitere Verfahren, etwa im Umsatzsteuer-, im Ertragsteuer- oder im Erbschaftsteuer- oder Zollrecht, die die interessierte Fachöffentlichkeit mit Spannung erwartet.

Klar: Herr Dr. Thesling, vielen Dank für das Gespräch. 

Zur Person

Nach dem Studium der Rechtswissenschaften war Dr. Thesling zunächst als Rechtsanwalt tätig, bevor er in den höheren Dienst der Finanzverwaltung des Landes NRW wechselte. Im Anschluss arbeitete er als Richter am Finanzgericht Düsseldorf, als Referent in der Staatskanzlei des Landes NRW sowie elf Jahre als Abteilungsleiter in der Landtagsverwaltung, bevor er 2016 als Präsident an das Finanzgericht Düsseldorf zurückkehrte. Seit 2018 bis zu seiner Ernennung zum Präsidenten des BFH leitete er die Abteilung für Personal und Recht im nordrhein-westfälischen Ministerium der Justiz.